Dem stolzen Festivaltitel liegen gleich mehrere Annahmen zugrunde, die sich trefflich hinterfragen lassen. Zum einen setzt er voraus, dass das, was man in Europa gemeinhin unter »Theater« versteht (und sind nicht schon die Unterschiede zwischen dem deutschsprachigen Theater und dem der Nachbarländer eklatant?) auch überall sonst auf unserem Planeten in reisefähiger Form anzutreffen sei. Zum anderen verwendet er den Begriff »Welt« aus einer Perspektive, die vielleicht am ehesten der einer Urlauberin gleicht: als beinahe grenzenlosen Erfahrungs- und Möglichkeitsraum, in dem es das spannende Neue, Unbekannte zu entdecken gelte. Ein Blick, der voller Neugier und Offenheit sein mag – dessen Perspektive aber zweifellos felsenfest in Europa verankert ist.
Zeit also für einen Perspektivwechsel. Zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals wird »Theater der Welt« im Jahr 2023 von einer außereuropäischen Programmdirektorin geleitet: Für die 16. Festivalausgabe, die die beiden Städte Frankfurt und Offenbach auf vielfältige Weise als einen urbanen Großraum erfahrbar machen wird, hat die japanische Festivalmacherin Chiaki Soma aus Tokio die künstlerische Verantwortung übernommen.
Theater der ganzen Welt also, demnächst zu Gast am Main? Welt ist, aus philosophischer Perspektive, der Horizont aller menschlichen Erfahrung – die Totalität alles dessen, was war, ist oder sein wird. Welt ist daher selbst nicht erfahrbar. Einen Grenzfall mögen solche Ereignisse darstellen, die zwar den einzelnen Menschen betreffen, zugleich aber globale Dimensionen aufweisen: etwa Klimakatastrophen, Weltkriege oder globale Pandemien. So gesehen gab es in den vergangenen Jahren und Monaten so viel Welt in der Welt wie lange nicht.
Chiaki Soma setzt folgerichtig bei genau dieser Erfahrung an: »Incubationism« lautet der (zusammen mit der Dramaturgin Kyoko Iwaki) entwickelte Begriff, den sie zu einer der thematischen Überschriften des Festivals erkoren hat. Gemeint ist damit die Beschreibung eines Grenzzustands in der Gegenwart, in dem das Zukünftige zugleich befürchtet und ersehnt wird. Der antike Begriff der »Inkubation« bezeichnet einen Schlaf, in dem der (erkrankte) Mensch in Kontakt tritt mit dem Mythischen – auf Heilung oder neues Leben hoffend, zugleich aber die (Fortdauer der) Symptome fürchtend. »Incubationism« ist somit ein Ausdruck für die weltweite Zäsur und die temporäre Suspendierung des globalisierten Kapitalismus, zu der die Covid-19-Pandemie in den letzten Jahren geführt hat. Wir leben, so die These, in einer Zeit der Inkubation. Wohin gehen wir, von hier aus?
Geprägt durch die Erfahrungen der Pandemie, postuliert das Team um Chiaki Soma eine »neue Ethik«, die das Konzept von »Care« – das auf »Cura« zurückgeht, lateinisch für Fürsorge, Pflege und Heilung – zu den bestehenden Fundamenten demokratischer und offener Gesellschaften hinzufügen will. Neben Wahlrecht, Presse- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Minderheitenrechten und weiteren demokratischen Grundlagen soll »Care« unser Verhalten zueinander, zur Umwelt sowie unser Verhältnis zu den nicht-menschlichen Lebewesen, mit denen wir diesen Planeten teilen, bestimmen. Dabei geht es um eine gesellschaftliche und politische Transformation, aber auch um individuelle Verantwortung: »Wir leben in einer Welt, in der jeder Mensch nicht nur das Recht auf Fürsorge besitzt, sondern vor allem auch die ethische Verpflichtung hat, sich an fürsorglichem Handeln zu beteiligen«, formuliert Soma.
Der Angriffskrieg der russischen Machthaber auf die Ukraine wirft ein neues, grelles Schlaglicht auf dieses Postulat. Ist es naiv, Fürsorge und Heilung zu fordern, während Raketen fliegen und unschuldige Menschen gefoltert, vertrieben, getötet werden? Ist es nicht besser, in Zeiten wie den unsrigen Waffen zu ergreifen, Abwehrkräfte zu stärken, aufzurüsten? Mag sein. Vielleicht ist aber auch dieser Eindruck eine Frage der Perspektive. Denn wenn die Forderung nach »Care« jetzt naiv ist, dann war sie es immer schon und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Der Krieg, der Europa gerade erschüttert, war und ist in anderen Regionen unseres Planeten niemals abwesend. Das Leid, das Unrecht und der Horror sind immer schon da, sobald der Blick sich nur weitet – eine simple Tatsache, die das Leiden der Menschen in der Ukraine keineswegs relativiert, sondern um eine andere Sichtweise ergänzt. Müssen wir nicht trotzdem das scheinbar Unmögliche fordern? Und ist nicht gerade dies auch Aufgabe der Kunst? Die Welt endet nicht an Europas Grenzen. Welcher Anlass wäre passender als ein Festival wie »Theater der Welt«, um diese Erfahrung zu machen.
Die digitale Plattform, auf der das Spielzeitmagazin des Schauspiel Frankfurt in diesem Jahr veröffentlicht wird, ermöglicht ein agileres Lesen, erlaubt aber auch – im Gegenzug – flexiblere Formen der Veröffentlichung. Im Laufe der kommenden Spielzeit werden daher an dieser Stelle weitere Texte, Videos und Fotos das Festival inhaltlich und anschaulich vorbereiten. Wir freuen uns auf die Zeit vor dem Festival, und auf ein spannendes, provozierendes und einladendes Festivalprogramm, das im Frühjahr 2023 veröffentlicht werden wird.
Zeit also für einen Perspektivwechsel. Zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals wird »Theater der Welt« im Jahr 2023 von einer außereuropäischen Programmdirektorin geleitet: Für die 16. Festivalausgabe, die die beiden Städte Frankfurt und Offenbach auf vielfältige Weise als einen urbanen Großraum erfahrbar machen wird, hat die japanische Festivalmacherin Chiaki Soma aus Tokio die künstlerische Verantwortung übernommen.
Theater der ganzen Welt also, demnächst zu Gast am Main? Welt ist, aus philosophischer Perspektive, der Horizont aller menschlichen Erfahrung – die Totalität alles dessen, was war, ist oder sein wird. Welt ist daher selbst nicht erfahrbar. Einen Grenzfall mögen solche Ereignisse darstellen, die zwar den einzelnen Menschen betreffen, zugleich aber globale Dimensionen aufweisen: etwa Klimakatastrophen, Weltkriege oder globale Pandemien. So gesehen gab es in den vergangenen Jahren und Monaten so viel Welt in der Welt wie lange nicht.
Chiaki Soma setzt folgerichtig bei genau dieser Erfahrung an: »Incubationism« lautet der (zusammen mit der Dramaturgin Kyoko Iwaki) entwickelte Begriff, den sie zu einer der thematischen Überschriften des Festivals erkoren hat. Gemeint ist damit die Beschreibung eines Grenzzustands in der Gegenwart, in dem das Zukünftige zugleich befürchtet und ersehnt wird. Der antike Begriff der »Inkubation« bezeichnet einen Schlaf, in dem der (erkrankte) Mensch in Kontakt tritt mit dem Mythischen – auf Heilung oder neues Leben hoffend, zugleich aber die (Fortdauer der) Symptome fürchtend. »Incubationism« ist somit ein Ausdruck für die weltweite Zäsur und die temporäre Suspendierung des globalisierten Kapitalismus, zu der die Covid-19-Pandemie in den letzten Jahren geführt hat. Wir leben, so die These, in einer Zeit der Inkubation. Wohin gehen wir, von hier aus?
Geprägt durch die Erfahrungen der Pandemie, postuliert das Team um Chiaki Soma eine »neue Ethik«, die das Konzept von »Care« – das auf »Cura« zurückgeht, lateinisch für Fürsorge, Pflege und Heilung – zu den bestehenden Fundamenten demokratischer und offener Gesellschaften hinzufügen will. Neben Wahlrecht, Presse- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Minderheitenrechten und weiteren demokratischen Grundlagen soll »Care« unser Verhalten zueinander, zur Umwelt sowie unser Verhältnis zu den nicht-menschlichen Lebewesen, mit denen wir diesen Planeten teilen, bestimmen. Dabei geht es um eine gesellschaftliche und politische Transformation, aber auch um individuelle Verantwortung: »Wir leben in einer Welt, in der jeder Mensch nicht nur das Recht auf Fürsorge besitzt, sondern vor allem auch die ethische Verpflichtung hat, sich an fürsorglichem Handeln zu beteiligen«, formuliert Soma.
Der Angriffskrieg der russischen Machthaber auf die Ukraine wirft ein neues, grelles Schlaglicht auf dieses Postulat. Ist es naiv, Fürsorge und Heilung zu fordern, während Raketen fliegen und unschuldige Menschen gefoltert, vertrieben, getötet werden? Ist es nicht besser, in Zeiten wie den unsrigen Waffen zu ergreifen, Abwehrkräfte zu stärken, aufzurüsten? Mag sein. Vielleicht ist aber auch dieser Eindruck eine Frage der Perspektive. Denn wenn die Forderung nach »Care« jetzt naiv ist, dann war sie es immer schon und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Der Krieg, der Europa gerade erschüttert, war und ist in anderen Regionen unseres Planeten niemals abwesend. Das Leid, das Unrecht und der Horror sind immer schon da, sobald der Blick sich nur weitet – eine simple Tatsache, die das Leiden der Menschen in der Ukraine keineswegs relativiert, sondern um eine andere Sichtweise ergänzt. Müssen wir nicht trotzdem das scheinbar Unmögliche fordern? Und ist nicht gerade dies auch Aufgabe der Kunst? Die Welt endet nicht an Europas Grenzen. Welcher Anlass wäre passender als ein Festival wie »Theater der Welt«, um diese Erfahrung zu machen.
Die digitale Plattform, auf der das Spielzeitmagazin des Schauspiel Frankfurt in diesem Jahr veröffentlicht wird, ermöglicht ein agileres Lesen, erlaubt aber auch – im Gegenzug – flexiblere Formen der Veröffentlichung. Im Laufe der kommenden Spielzeit werden daher an dieser Stelle weitere Texte, Videos und Fotos das Festival inhaltlich und anschaulich vorbereiten. Wir freuen uns auf die Zeit vor dem Festival, und auf ein spannendes, provozierendes und einladendes Festivalprogramm, das im Frühjahr 2023 veröffentlicht werden wird.